Kleiner Junge im Teufelskreis der Gewalt

Holzschnitt: Der kleine Joseph wehrt sich mit dem Schürhaken

In diesem Text aus dem Jahr 1970 betrachtet der Gründer der Bewegung ATD Vierte Welt seine Kindheit im Licht der Erfahrungen, die er später im Zusammenleben mit Menschen in schwerer Armut gemacht hat. Lesen Sie hier einen Ausschnitt:

„Ich weiss nicht, was ich ihr in meinem kindlichen Zorn sagte …“

Ich kann mich nicht erinnern, dass Mama einmal guter Laune war, wenn ich aus der Schule heimkam. Nichts konnte sie darüber hinwegtrösten, dass ihr Mann sie verlassen hatte und sie die Last von vier Kindern allein tragen musste. Die Nachrichten von meinem Vater, und vor allem das Geld, das er schicken sollte, blieben aus. Das Gas musste bezahlt werden, die Kohle für den Winter, ein neuer Ofen war fällig …
Es war fast immer kalt bei uns. In der alten Schmiede, wo wir wohnten, herrschte ständig Durchzug. Der Wind drang unter den Türen und durch die Trennwände ein. Eine dieser Trennwände war aus mit Packpapier überzogenen Kisten gemacht. Wenn das Papier riss, peitschte uns der Wind.
Kalt war es auch, weil alle Wohnungen über uns durch dasselbe Schornsteinrohr miteinander verbunden waren. Dieses Rohr war oft verstopft, und wenn wir Feuer machten, kam Thérèse, die Schneiderstochter, die Treppe herunter und beschimpfte meine Mutter, weil der Rauch bei ihnen eindrang. Um keinen Ärger zu haben, nahm Mama dann die Kohlen, die wir auf dem Gelände der Gasfabrik gesammelt hatten, aus dem Herd: jene Kohlen, die wir so mühsam sortiert hatten und die in ihrer Armseligkeit die Kälte im Haus eher hervorzuheben als zu beheben schienen.
Wie lässt sich diese Passivität meiner Mutter und so vieler anderer armer Mütter, denen ich heute an den Stätten des Elends begegne, erklären? Ihre Befürchtung, es mit den Nachbarn zu verderben, kam sicher von der Abgespanntheit, mehr aber noch von der Angst. Mutter vergass nie, dass sie eine Fremde war. Sie fürchtete ständig, man könnte sie nach Spanien zurückschicken, die Polizei könnte uns, weiss Gott weshalb, holen. Und genauso fürchten die Mütter in den Notsiedlungen immer, jemand könnte ihnen ein Leid zufügen.
 Was Thérèse betrifft, die Schneiderstochter, die immer wieder kam und sie beleidigte, so nahm ich eines Tages – ich war noch sehr klein – den Schürhaken und fuchtelte damit vor ihr in der Luft herum. Ich weiss nicht, was ich ihr in meinem kindlichen Zorn sagte, aber von da an durfte unser armseliges Feuer weiterschwelen in diesem alten Herd, dessen Feuerloch entzwei war und dessen Risse wir ständig mit Lehm von den Nachbarwiesen zukitteten.

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