Wer wird das bezeugen?

Die Leidensgeschichte der ärmsten Glieder der Menschheit muss vor dem Vergessen bewahrt werden. Dieses Anliegen formuliert Joseph Wresinski im April 1982, auf einer Reise nach Israel und Palästina, in einem Brief an die Mitarbeiter der Bewegung ATD Vierte Welt. Er erinnert an drei Orte in der Pariser Region, wo wenige Jahre zuvor Familien in bitterer Armut gelebt haben.

Zur Vergessenheit verurteilt?

Es gibt Dinge, deren Bedeutung uns fern von zu Hause schlagartig bewusst wird, weil wir das Glück haben, sie in einem universalen Kontext neu einzuschätzen. Unsere Bewegung hat weise gehandelt, als sie sich dazu entschloss, das Elend der Familien Stunde für Stunde, Tag für Tag schriftlich festzuhalten. Was uns zu dieser Entscheidung getrieben hat, war ganz sicher unsere Liebe zu diesen Familien und die Gewissheit, dass eine andere Zukunft für sie ohne diese tägliche Niederschrift nicht möglich ist. Dass sie sonst zur Vergessenheit verurteilt sind, wie wir damals sagten.

Hier in Palästina erlebe ich ständig diese Realität des Vergessens. Wir sagen, das Leben und die Präsenz der Armen hinterlassen keine Spuren. Welche Spuren, welchen Fussabdruck haben sie denn in La Courneuve, Les Francs-Moisins und La Cerisaie hinterlassen? Kürzlich ging ich dort vorbei, ich erkannte nicht einmal mehr die genaue Lage wieder.

Wie viele Tränen haben diesen Boden genetzt, wie viel Leid haben Hunderte Familien an diesen Orten erduldet, wie viele Schreie sind zum Himmel gedrungen! Kein Denkmal, keine Stele, keine Gedenktafel wurde gesetzt.

Nur im Fleisch der Menschen sind davon Narben zurückgeblieben. Nur die gross gewordenen Kinder werden die Erinnerung daran im Gedächtnis behalten, bis sie verblasst.

Orte des Leidens

Und doch hat die Menschheit an diesen Orten gelitten wie nirgends sonst. Wir haben gesehen, wie Kinder tief beschämt bettelten. Wir haben gesehen, wie Erwachsene unsäglich gedemütigt wurden. Als Opfer untauglicher Gesetze waren sie unmenschlichen, engstirnigen Verhaltensweisen ausgesetzt. […] Wir haben pure Willkür herrschen sehen. Horden wehrloser armer Leute erniedrigten sich, dass man sich zu Tode schämen möchte. Was haben wir nicht alles gesehen!

Helden ohne Ruhm

Wer wird davon wissen? Wer wird es bezeugen? Wer wird die Worte dieser zu einem Sklavendasein verurteilten Menschheitsklasse weitergeben? Ihr Heroismus brachte ihr keinen Ruhm ein, weil sie nichts zu verteidigen hatte und sich von keiner andern Sache mitreissen lassen konnte als dem bescheidenen Lächeln, der bescheidenen, missachteten, unverstandenen und oft lächerlich gemachten Liebe zur Familie.

Wenn wir nicht Tag für Tag da gewesen wären, dann wäre eine der schmerzlichsten Seiten der Armen aus dem Geschichtsbuch der Menschen herausgerissen worden.

Dann könnten die Menschen alles, was sie ihren Geschwistern angetan haben, vergessen und glauben, sie selbst seien gerecht und berechtigt, über andere zu urteilen.

Joseph Wresinski

Dieser Ausschnitt aus einem Brief an die Mitarbeiter im internationalen Zentrum von ATD Vierte Welt in Pierrelaye, Frankreich, erschien im August 2003 unter dem Titel  « Qui en témoignera ? » in der Zeitschrift Revue Quart Monde, in einem Dossier zum Welttag zur Überwindung der Armut (17. Oktober). Die Zwischentitel und Hervorhebungen stammen von der Übersetzerin.

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