Lieben um kennen zu lernen, kennen lernen um zu lieben

Liebe Freunde,

Ihr beobachtet die Familien der Elendsviertel. Ihr versucht diese zu verstehen, ihre Reaktionen auf euer solidarisches Handeln zu erraten, ihre Lebenswelt kennen zu lernen. Und oft macht euch das ratlos.

Wir haben unsererseits versucht, euch bei diesem Kennenlernen zu helfen; auf internationaler Ebene haben wir drei Tagungen organisiert, auf denen Experten aus zehn verschiedenen Nationen vertreten waren. Unser kleiner Rundbrief bemüht sich, auf den Grund der Seele, des Geistes und des Herzens zu gehen, über das Offensichtliche und das Unwesentliche hinauszugehen. Wir waren auf den Märkten mit Ständen vertreten, um an das Gewissen zu appellieren und das Leben der Familien in den Elendsvierteln, bekannt zu machen.

Viele verstehen unseren Drang nicht, zu informieren, bekanntzumachen, zu erklären. Einige denken, dass wir uns damit begnügen sollten, Hilfe zu leisten, die Not zu lindern und die Familien aus den Elendsvierteln zu ermutigen. Diese haben recht, uns zu ermahnen: „Draufgänger, passt auf,  euch nicht in einem Intellektualismus des Elends zu verlieren, was ergebnislos ist“…  Wir danken ihnen dafür, denn sie helfen uns, dass wir uns nicht vom mitmenschlichen Kontakt entfernen, der aus Anwesenheit, Zuhören, Verbundenheit und achtsamem Handeln besteht.

Wie können wir aber präsent sein, wenn wir die Lebenswelt der Elendsviertel nicht verstehen, wie zuhören, ohne den Sinn der Worte zu kennen, wie helfen, ohne zu wissen, was nötig ist? Riskieren wir dann nicht, unbewusst etwas gutzuheissen und ein unmenschliches Schicksal zu akzeptieren?

Lieben um kennen zu lernen, kennen lernen um zu lieben. Die beiden Haltungen ergänzen sich, ohne einander zu verurteilen oder zu verachten. Sie sind die Grundlage für jede solidarische Beziehung.

Joseph Wresinski

Auszug aus dem Leitartikel der Nr. 5 der Revue Igloos, 1. November 1961.
Unterzeichnet « das Sekretariat », dieser Text stammt sehr wahrscheinlich von Joseph Wresinski selbst
Aus dem Französischen übersetzt von Ingeborg, Marina, Ursula u. Marie-Rose, Juni 2018
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