„Das ist mein Volk!“

Im Gespräch mit Gilles Anouil erzählt Joseph Wresinski von seiner ersten Begegnung mit dem Notunterkunftslager von Noisy-le-Grand in der Pariser Region.

Ich bin am 14. Juli 1956 angekommen. Die Sonne verbreitete eine glühende Hitze auf dieser Hochebene, die „Château de France“ genannt wird, die Wege waren verlassen, niemand war draussen. Angesichts dieser Leere sagte ich mir: Früher haben die Wasserquellen, die Wegkreuzungen, ein Kirchturm, eine Industrie die Menschen versammelt. Hier werden die Familien durchs Elend zusammengeführt. Das war wie eine Eingebung. Ich wusste, dass ich nicht mehr einer alltäglichen Situation von relativer Armut (wie man damals sagte) oder von persönlichen Schwierigkeiten gegenüberstand. Ich hatte es mit einem kollektiven Elend zu tun. Auf Anhieb habe ich gespürt, dass ich vor meinem Volk stand. Das lässt sich nicht erklären, das war so.

Von diesem Augenblick an hat mein eigenes Leben eine Wende genommen. Denn an jenem Tag habe ich mir fest vorgenommen, dass ich, wenn ich bliebe, dafür sorgen würde, dass diese Familien die Stufen des Vatikans, des Elysée, der UNO … emporsteigen können … Dieses blendende Elend, das sich in stickiger Hitze und völliger Stille vor meinen Augen ausbreitete, hat mich gepackt. Seither war ich besessen von der Idee, dass dieses Volk niemals aus seinem Elend herauskommen würde, solange es nicht in seiner Gesamtheit, als Volk, empfangen würde, wo die übrigen Menschen diskutieren und sich mühen. Es musste auf gleicher Ebene dabei sein, wo immer die Menschen über die Gegenwart, aber auch über das Los des Menschen, die Zukunft der Menschheit sprechen und entscheiden.

Am 14. Juli 1956 habe ich mein Schicksal besiegelt, auch wenn ich bis zum 11. November warten konnte, bevor ich mich definitiv in Noisy-le-Grand niederliess. Auch nach diesem 11. November behielt ich übrigens meine alte Pfarrei. Ich ging jeden Samstag und Sonntag hin. Ich war als Kind des Elends geboren und in meinem Innersten ein Mann des Elends geblieben. Von diesem hatte ich gelernt, alles zu glauben, alles zu wagen, aber doch irgendwo einen Notvorrat zu behalten, eine Birne für den Durst, ein Stück hartes Brot in der Tasche. Es gibt keinen Armen, der nicht so handelt. Meine eigene Mutter machte es so: Sie behielt immer ein Paar Schuhe auf Vorrat für ihre Kinder, eine Hose zu viel. Und wenn jemand uns noch ein Paar alte Schuhe vorbeibrachte – denn man gab uns oft Almosen –, sagte meine Mutter zur Spenderin: „Zum Glück sind Sie gekommen, wir hatten das gerade nötig.“ Wenn wir allein waren, fragte ich sie: „Mama, warum führst du eine solche Komödie auf?“ Sie sagte: „Joseph, du verstehst das nicht; wenn du ablehnst, was sie dir heute bringen, werden sie am Tag, wo du es wirklich brauchst, schon alles weggegeben haben.“ Ich habe mehrere Monate lang meine alte Pfarrei behalten, wie meine Mutter immer ein Paar Schuhe behielt, als Vorsichtsmassnahme.

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