Die Spielregeln ändern

Gilles Anouil – … Was wählen Sie – Reform oder Revolution?

Père Joseph – Ist das die eigentliche Frage? Die Ärmsten haben so viele Revolutionen und Reformen gesehen, die ihnen nichts gebracht haben. Beides sind Arten, die Karten neu unter den Spielern am Tisch zu verteilen. Um neue Spieler mitmachen zu lassen, genügt es nicht, die Karten neu zu verteilen, man muss die Spielregeln ändern. Man wirft der Bewegung oft vor, dass sie das Spiel der anerkannten Partner nicht mitspiele. Das stimmt: sie bringt einen neuen Spieler an den Tisch. Das ist für alle gleich störend.

Wie sollen wir Stellung beziehen in der Debatte zwischen Reformern und Revolutionären? Unsere Aufgabe ist es, beide Seiten zu fragen: wo sind die Ärmsten? Hierin ist die Vierte-Welt-Bewegung ein Wächter in der Nacht. Indem sie allen die Frage nach den Ärmsten stellt, drückt sie ihre Überzeugung aus, dass alle zur Erfindung neuer Regeln beitragen müssen. Das sind zwei Grundsätze, die heute nicht viel gelten. Die Einsicht in die Anfälligkeit unserer Systeme und Ideologien sowie in die Notwendigkeit, all unsere Unternehmungen aus der Sicht der Ausgeschlossenen zu überprüfen, ist kein neuer Wert für unsere Gesellschaften, aber sie haben ihn nicht umgesetzt. Auch die Aussage, dass all unsere Mitarbeiter, alle Parteien und Gewerkschaften, alle unsere Institutionen und Kirchen zur Suche nach den Ärmsten beitragen und ihnen in ihrem eigenen Leben einen Platz geben müssen, ist nicht neu. Doch auch dieses Bemühen, sich als Teil eines Ganzen zu verstehen, dessen Mitte die Ausgeschlossenen bilden, gehört nicht zu den Spielregeln in der heutigen Welt.

Welche Veränderungen machen am meisten Angst?

– Es geht nicht um die eine oder andere Detailveränderung, die wichtiger wäre als andere und einen schwierigeren Einsatz verlangte. Was Angst macht, ist der Verzicht darauf, die Menschen wie Wurst in Probleme zu zerlegen. Die geforderte Veränderung besteht darin, die Würde der Armen ganz ernst zu nehmen, ihr Denken als Richtschnur zu nehmen für unsere Politik und ihre Hoffnung als Richtschnur für jegliches Handeln. Eine solche Revolution im Denken und im Menschenbild, eine solche Gesellschaft, die sich völlig mit den Forderungen der Ärmsten identifiziert, das bringt jedermann aus dem Konzept. Jederzeit, an jeder Straßenecke die Frage anzutreffen: „Was habt ihr mit mir getan?“, das zerstört alle intellektuellen und materiellen Sicherheiten. Man müsste auf andersartige Sicherheiten bauen. Das ist die Umkehrung der Prioritäten, von der die Vierte-Welt-Bewegung spricht.

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