Wenn alles erlischt

Umschlagbild Petite vie de Joseph Wresinski

Aus einer völlig verletzlichen Kraft heraus …

Auf dem Platz der Freiheiten und Rechte des Menschen am Trocadero in Paris weiht Père Joseph am 17. Oktober 1987 eine Gedenktafel für die Opfer des Elends ein. Sie ist das Ergebnis oder vielmehr der endgültige Ausdruck eines Lebens. Und vor allem erzählt sie von einem langen Marsch für die Anerkennung der Tatsache, dass Elend eine Verweigerung der Grundrechte ist; sie ist ein Denkmal für alle, die das Elend im Laufe der Jahrhunderte und bis heute zum Schweigen gebracht und zur Nutzlosigkeit verdammt hat; sie ist ein Aufruf an alle Verteidiger der Menschenrechte, „konsequent [zu] sein in der Begegnung mit dem andern, den andern an [zu] nehmen wie sich selbst, bis hin zum Allerärmsten“; und schliesslich verheisst sie, dass die Welt morgen imstande sein wird, die Stimme all ihrer Glieder zu hören und dass kein Mensch sich länger mit den Verletzungen abfinden wird, die das Elend nicht nur seinen unmittelbaren Opfern, sondern der ganzen Menschheit zufügt.
Einige Monate zuvor waren die Empfehlungen des Berichts „Grosse Armut und wirtschaftliche und soziale Unsicherheit“ vom französischen Wirtschafts- und Sozialrat angenommen worden. Dieser von Père Joseph erarbeitete Bericht ist ein entscheidender Einschnitt in der Geschichte der Armutsbekämpfung: zum ersten Mal wird hier ein umfassendes, kohärentes und zukunftsorientiertes politisches Programm vorgelegt, das den Kampf gegen das Elend mit dem Kampf für die Menschenrechte verbindet – erarbeitet in ständiger Absprache mit den Ärmsten selber über die Volkshochschulen der Vierte-Welt-Bewegung.
Von diesen beiden Hauptereignissen her gelesen, scheint Père Josephs Leben in ein einfaches Schema zu passen: ein Mann, der als Kind in grosser Armut gelebt hat, findet sich an der Spitze einer Bewegung wieder, die zwar auf sehr ernsthafte Widerstände gestossen ist, aber doch nach und nach eine gewisse Anerkennung bei den nationalen und internationalen Instanzen erworben hat. „Langsam aber sicher machte er seinen Weg.“ Eine solche Interpretation vergisst gerade, wie langsam alles ging. Sie übersieht, dass dieser Weg von Schlammlöchern durchsetzt war, ja manchmal durch Abgründe führte. Ein Père Joseph, der nie den Mut verliert, der sich seiner Sache ziemlich sicher ist, mit unerschütterlichem Vertrauen, dem alles gelungen ist – solch eine Ikone ist vorstellbar. Und um das Bild abzurunden: aufbrausend, ein unmöglicher Charakter und doch von unfassbarer Zärtlichkeit. Ein starkes Temperament, wie man sagt, das die Gegensätze verbindet. Wie alle
Führungspersönlichkeiten. Mit scharfem Blick für die Lücke im Unmöglichen. Visionär, Prophet, Erneuerer. All dies ist nicht falsch, aber nur eine Skizze. Selbstverständlich war er eine charismatische Führungspersönlichkeit, aber – wie soll ich sagen? – aus einer völlig verletzlichen Kraft heraus.
Père Josephs Leben ist der Ort und gleichzeitig die Frucht eines spirituellen Kampfes von erschreckender Intensität.

Jean-Claude Caillaux ist Theologe und seit 1982 Mitarbeiter der Bewegung ATD Vierte Welt. Der Text ist der Biografie „Joseph Wresinski. Un défi pour la dignité de tous“ entnommen. (Paris, Desclée de Brouwer, 1999, Seiten 95-115, neu aufgelegt 2007 unter dem Titel „Petite vie de Joseph Wresinski“). Aus dem Französischen übertragen von Marie-Rose Blunschi Ackermann, Januar 2000.

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