Amerikas Bestimmung

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in den USA ist es interessant nachzulesen, wie Joseph Wresinski 1983 an einem Vierte-Welt-Festival in New York von Amerikas Bestimmung sprach.

“Als Volk stammt ihr von jenen Familien ab, die durch Jahrhunderte hinweg aufstanden gegen Elend und Unterdrückung. Indem sie in dieses Land kamen, wollten eure Vorfahren eine Gesellschaft der Gerechtigkeit, der Brüderlichkeit und des Friedens aufbauen. Ihr Stolz und Mut fließt in euren Adern. Deshalb ist Amerika ein Symbol für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, und wird überall als solches anerkannt. Ihr schuldet der Welt Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden.

Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden wurden in der Welt oft verraten. Auch Amerika ist seinen Idealen und seiner Bestimmung nicht immer treu geblieben. Aber wenn Amerika seine Ideale verrät, ist die ganze Welt davon betroffen und leidet, und die Armen werden davon gedemütigt und hoffnungslos, weil sie ohne ein Heimatland der Freiheit zurückgelassen werden. Sie werden zurückgelassen ohne ein Land, wo Freiheit Wurzeln schlagen und wachsen kann und wo Hoffnung wieder neu entspringen kann. Amerika kann das nicht ignorieren, darf das nicht vergessen. Jene, die an Elend, Hunger, Ignoranz und Verzweiflung leiden, halten ihre Augen auf dieses Land gerichtet. Amerika trägt die Verantwortung, den Ärmsten die Begegnung mit Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zu ermöglichen.

Für diese Begegnung des Elends mit Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden muss Amerika seinen Lebensstil, seine Gedanken, seine Haltungen und, ja, auch seine Selbstgefälligkeit ändern. Dieses Land hat nicht notwendigerweise die Berufung, das erste in allem oder das reichste der Welt zu sein. Seine Berufung ist es, die Armen weltweit zu schützen und allen voran seine eigenen Armen, die von Arbeitslosigkeit, Analphabetismus und Obdachlosigkeit gebeutelt sind und zu Suppenküchen, Sozialhilfe und Verachtung verdammt sind. Hat dieses Land nicht die historische Bestimmung, das Elend, wo immer auf der Welt es sich findet, zu beseitigen? Nur so wird es sich ohne Scham in die Augen sehen können.

Aber Elend zu beseitigen ist nicht nur eine Frage von Dollars. Es ist weder eine Frage von Entwicklungsplänen in den Büros der Weltbank – Pläne, die immer nur den Stärksten nützen – noch geht es darum, Banner zu schwenken oder Slogans zu schreien. Armut zu beseitigen erfordert vor allem eine Begegnung mit Männern und Frauen. Es erfordert, sie dort aufzusuchen, wo sie sind – nicht, um sie zu belehren, sondern, um von ihnen zu lernen, was unsere Überzeugungen wert sind, um von ihnen zu lernen, wer sie sind und was sie von uns erwarten, damit wir gemeinsam auf das hinarbeiten können, was sie wirklich wollen.

Also, habt den Mut, eure jetzige Gesellschaft hinter euch zu lassen, wie eure Vorfahren es einst taten. Geht zu den Ärmsten in der Welt. Dann, und nur dann, werden die Ärmsten einen Grund haben, an Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zu glauben.”

Joseph Wresinski, New York, 1983, aus dem Französischen übertragen von Johanna Stoll, Oktober 2020

„Behaltet, alte Küsten, euren Schein,“
ruft sie stumm. „Gebt mir nur eure Armen,
Entwurzelten, voll Sehnsucht, frei zu sein,
die Seelen, die eure Ufer flohen.
Jener Schwachen will ich mich erbarmen.
An dem gold‘nen Tor soll mein Licht lohen!“

Emma Lazarus, Inschrift am Podest der Freiheitsstatue, aus dem Amerikanischen übertragen von Bernd Matzner

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