Eine Nächstenliebe, die alle Menschen einschließt

Dieser Text steht als Leitartikel in der Revue Igloos, mit der Klammerbemerkung: „Gedanken zur bevorstehenden Ausstrahlung in der Sendung ‚choses vues‘ (im März 1969) einer Reportage über eine Notunterkunft in der Nähe von Paris“. Joseph Wresinski befürchtet, dass die rohen und realistischen Bilder dieser von Roger Stéphane gedrehten Fernsehsendung die Zuschauer schockieren würden. Er schreibt: „Diese Reportage enthüllt zum ersten Mal das schmerzhafte Gesicht des Elends in der westlichen Welt, ohne die Schminke des Mitleids“. Abschliessend unterstreicht er noch einmal, dass extreme Armut schockierend sei, dass sie aber nicht dazu führen dürfe, dass wir die Hoffnung verlieren.

Hoffnung – Verzweiflung,
Erleichterung – Überforderung,
Erfolg – Schwierigkeit,
Hoffnung – Enttäuschung,
immer wieder auf seine Illusionen zurückkommen,
immer wieder seine Enttäuschungen hinunterschlucken,
das heißt gegen extreme Armut zu kämpfen.

Trotz allem die Fähigkeit zum Staunen bewahren,
weil auch sie Menschen sind,
glauben, weil sie Menschen sind, dass es ihnen letztendlich gelingt, dem Elend zu entkommen, dass es ihnen gelingt,
ihre eigenen Herausforderungen zu bewältigen,
die geprägt sind von:
Glück und Pech,
Freude und Leid,
Maßloser Hoffnung und herber Enttäuschung …
Sicher sein, dass ein Wunder geschehen wird
und auf die Tage der Spannungen, des Zorns und der Gewalt
immer öfter Zeiten folgen werden,
die geprägt sind von Verständnis, Austausch und Zuneigung.
Davon überzeugt sein, weil sie Menschen sind.
Wider allen Anschein glauben,
dass es wahr ist und dass sie ihre Menschlichkeit
voll und ganz verwirklichen werden.
Dass sie ihren Angehörigen in Frieden begegnen
und Freude, Glück und Zärtlichkeit bringen werden.
Dass sie mit ihren schwachen Armen,
mit ihrem von Entbehrungen und Verletzungen gezeichneten Körper anderen helfen werden.

Überzeugt sein, dass sie in Beziehung treten können
mit Größerem als sie,
mit Besserem als sie,
mit Wahrerem als sie,
mit Schönerem als sie.
Daran glauben, dass ihre so oft enttäuschten,
verhöhnten, zurückgewiesenen, gedemütigten,
ja verratenen Herzen
ihren Anteil an der Liebe haben werden.
Und sogar sicher sein (warum eigentlich nicht?),
dass ihre Seele beten wird,
das heißt gegen extreme Armut zu kämpfen.

Von ihrer Zerrissenheit zerrissen werden,
von ihrer Wunde verwundet,
die Qual ihrer Schmach durchmachen,
aufgerieben durch ihre Niederlagen,
hoffen mit ihrer Hoffnung,
lieben mit ihrer Liebe,
beten mit ihrem Gebet,
um zusammen mit ihnen
dem Unglück die Stirn zu bieten,
um es zu vertreiben und zu vernichten,
das und nicht weniger bedeutet es, das Elend zu beseitigen.

Wer es nicht bei Ideen,
Absichten und Wünschen
bewenden lässt,
sondern den Preis
für Freiheit und Gerechtigkeit,
für Rechte und Einfluss zahlt,
entfacht in der Menschheit eine Nächstenliebe,
die alle Menschen einschließt.

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