Gerechtigkeit von Herzen

Am 17. Oktober ist der UNO-Welttag zur Überwindung von Armut und Ausgrenzung. Der folgende Text macht deutlich, worum es Joseph Wresinski bei der wegweisenden Veranstaltung vom 17. Oktober 1987 in Paris ging. Im Rahmen einer Mitgliederversammlung von ATD Vierte Welt in den Niederlanden erklärte Wresinski die Bedeutung des Mottos „Gerechtigkeit von Herzen“ für die Kampagne zum dreißigjährigen Bestehen der Bewegung. Der Höhepunkt dieser Kampagne war die Einweihung eines Gedenksteins zu Ehren der Opfer des Elends auf dem „Parvis des Libertés et des Droits de l’Homme“ am 17. Oktober 1987.

„Wie können die Menschen meine Kinder in der Schule leiden sehen, ohne dabei selbst ein beklommenes Herz zu haben?“ „Wie konnte der Arbeitgeber so wenig Herz haben und meinen Mann entlassen?“ „Wie konnte die Sozialarbeiterin so ein hartes, so ungerechtes Herz haben, und mich beschuldigen, keine gute Mutter zu sein?“ Ist denn der wahre Schrei der notleidenden Familien, euer Schrei als Familien hier in den Niederlanden, nicht immer zuerst dieser: „Wie konnte ihr Herz es erlauben, uns zu verletzen, uns zu verachten, uns zu demütigen, uns ununterbrochen zu spüren geben, dass wir nur Nichtsnutze sind?“

Das sei nicht gerecht, vor allem das sei nicht gerecht: das sagt ihr auch oft, wenn ich euch im t’Zwerfel-Hof in Wijhe[1] treffe. Die erste Ungerechtigkeit, die, die als erste aufhören muss, ist die Ungerechtigkeit des Herzens, diese schlimmste aller Ungerechtigkeiten, die dazu führt, dass ein Mensch glauben kann, er sei einem anderen Menschen überlegen, er hätte das Recht, ihn zu missachten.

Ich denke an diese holländische Mutter aus Coevorden, die mir erzählte, wie sie als Kind, als junges Mädchen, mit ihren Eltern auf einem Frachtkahn lebte. „Bei uns war es schön, war es sauber“, sagte sie mir, „aber die Stadtmenschen glaubten es nicht. Sie verachteten uns, sie dachten, wir wären nicht sauber, und meine Klassenkameraden durften nicht zum Spielen zu mir kommen, auf den Frachtkahn.“

Es ist diese Ungerechtigkeit des Herzens, diese Ungerechtigkeit in den Blicken des menschlichen Umfelds, die bewirkt hat, dass dieses junge Mädchen später, als Frau und Mutter, all die anderen Ungerechtigkeiten, die der Gesetze, verstanden hat. Sie versteht heute, warum sie mit ihrer Familie in einer Wohnung leben muss, die seit mehr als zehn Jahren auf Renovierungsarbeiten wartet. Sie wartet ein Jahr nach dem anderen, weil die Stadt sparen muss. Es ist jedoch immer das Gebäude, in dem sie wohnt, das von dem Gemeindehaushaltsplan gestrichen wird.

Schreiende Ungerechtigkeit, denn Familien mit besseren Einkommen werden von der Stadt gut untergebracht. Aber die Mutter, sie versteht, woher diese Ungerechtigkeit in der Stadtverwaltung kommt. Die Beamten, die in den Rathausbüros diese Akte bearbeiten, waren Kinder, als sie ein kleines Mädchen war. Und schon in der Schule sagte man ihnen, dass auf den Frachtkähnen keine sauberen Menschen leben, Kinder, mit denen man nicht spielen soll. Als Kind haben diese Beamten diese Gerechtigkeit aus dem Herzen, die aussagt, dass jedes andere Kind ein Geschwister, ein Kamerad ist, nicht gelernt. Wie könnten sie dann heute in ihren Akten, in ihren Gesetzen Gerechtigkeit haben?

Diese Mutter, von der ich spreche und die uns das alles so schlicht und einfach erzählte, hat mir auch gesagt: „Von all diesen Dingen konnte ich lange Zeit mit niemandem sprechen. Heute und hier kann ich sagen, was ich erlebt habe, denn hier findet man Menschen, mit denen man reden kann.“

Die Menschenrechte sind zuallererst eine menschliche Angelegenheit. „Menschen, mit denen man reden kann“ sagte diese Familienmutter. Und das sagen alle Familien, die zum t‘Zwerfel-Hof kommen. „Hier findet man Menschen, mit denen man reden kann.“

Warum kann man mit ihnen reden? Weil sie den tiefen, starken Wunsch haben zu hören, zu verstehen, zu teilen. Weil die Gerechtigkeit nicht nur in ihrem Kopf, in ihren Worten, sondern auch in ihrem Herzen ist. Diese Gerechtigkeit, die auslöst, dass Sie selbst auch weh haben, wenn der andere weh hat, und dass Sie sich auch gedemütigt fühlen, wenn der andere gedemütigt wird.

Ich will Ihnen einige Worte über diese Menschen, „zu denen man reden kann“, sagen, über diese Mitarbeitenden, die Sie richtigerweise „ständige Volontärinnen und Volontäre“ nennen. Worin sind sie beständig? Beständig in der Gerechtigkeit von Herzen, die dazu führt, dass sie am Tag mit den Familien arbeiten, handeln, leben. Gerechtigkeit von Herzen, die dazu führt, dass sie nachts aufwachen, in der Sorge, nicht genug getan zu haben. In der Sorge darum, was morgen gelingen muss, damit die Ungerechtigkeit im Herzen der Menschen ein Ende nimmt. Denn erst dann wird sie auch in den Gesetzen ein Ende nehmen. Diese Mitarbeiter, diese „ständigen Volontärinnen“ haben von den Familien der Vierten Welt gelernt, dass die extreme Armut die umfassendste Menschenrechtsverletzung ist.

In der Vierten Welt gibt es tatsächlich weder Recht auf Ausbildung noch Recht auf Arbeit. Es gibt weder die Freiheit der Wohnsitzwahl noch die Möglichkeit, sich frei in einer selbst ausgewählten Organisation zusammenzuschließen.

„Die anderen sehen uns nicht, es ist, als ob wir nicht existieren würden“, sagen die Familien. Welchen Platz kann denn jemand, der nicht existiert, in unseren Gewerkschaften oder Parteien, in unseren Kirchen oder Vereinen haben? Die extreme Armut ist eine Verweigerung aller Menschenrechte, seien sie politisch, wirtschaftlich, sozial oder kulturell. Die Familien der Vierten Welt und die ständigen Volontäre haben dies gemeinsam gelernt und verstanden. Und Sie, die „Verbündeten“, die sich ihnen angeschlossen haben, Sie haben es auch verstanden. Und so ist die Bewegung ATD Vierte Welt in den vergangenen dreißig Jahren als Menschenrechtsbewegung gewachsen und stärker geworden. Aber Menschenrechtsorganisationen, davon gibt es viele in der Welt. Sind wir anders? Ich glaube, dass wir dank Ihnen, Familien der Vierten Welt, nicht ganz eine Organisation wie die anderen sind. Warum? Weil die Menschenrechte für uns erst dann existieren, wenn sie in der ärmsten, der meist vergessenen, ausgestoßenen, missachteten Familie gewährleistet sind. Und weil für uns die Menschenrechte erst dann gesichert und auf Dauer gewährleistet sind, wenn sie nicht nur in den Gesetzen, sondern vor allem im Herzen und im persönlichen Leben der Menschen verankert sind.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben wir in unseren westeuropäischen Ländern große Fortschritte im Gebiet der Menschenrechte gemacht. Niemand kann dies leugnen. Unsere Länder haben eine gute Gesetzgebung. Aber die Holländer, die Franzosen, die Belgier, die Deutschen, die Briten tragen das Ideal der Gerechtigkeit nicht mehr im Herzen. Allmählich kamen sie zu der Überzeugung, dass sich Gerechtigkeit auf eine Frage der Gesetzgebung reduzieren lässt.

Die Menschenrechte haben jedoch in den Herzen der Menschen gekeimt. Menschen haben für sie gekämpft, weil ihr Herz an die einzigartige Natur und den einzigartigen Wert aller Menschen glaubte. Aber allmählich haben wir, ohne es zu bemerken, aus dieser Angelegenheit des Menschen für den Menschen, aus dieser Angelegenheit des Glaubens und des Herzens eine Angelegenheit alleinig der politischen und rechtlichen Strukturen unserer Gesellschaften gemacht.

Aus diesem Grund haben unsere Herzen nicht mehr gesprochen, wenn wir eine Familie sahen, die in einer Bruchbude wohnte, tiefst unglückliche Kinder, die in Sonderschulen verstoßen wurden. Unsere Herzen waren nicht mehr von der Gerechtigkeit erfüllt und wir haben ertragen können, dass Eltern, Kinder, Arbeiter sich im Unglück befinden. Oft haben wir sie schlussendlich wegen ihrem Unglück verachtet und ihnen Vorwürfe gemacht, weil sie aus unseren Gesetzen keinen Nutzen zogen.

ATD Vierte Welt hat die Aufgabe, an die wahre Geschichte der Menschenrechte zu erinnern, die Geschichte eines Ideals, das im Herzen der Menschen, aus Liebe zur Menschheit entsprungen ist. Die Familien der Vierten Welt erinnern uns daran, dass wir diesen Faden wieder aufgreifen müssen. Die Menschenrechte sind eine Angelegenheit des Herzens, des Glaubens, eine Angelegenheit der Zivilisation. Diese Angelegenheit betrifft jeden einzelnen Menschen: Die Gruppe der „ständigen Volontäre“ besteht aus Männern und Frauen, die daran glauben, dass es ihre Angelegenheit, ihre Lebensaufgabe ist. Und wie schon gesagt, die Familien sind überzeugt, dass man ihnen alles erzählen kann über das Leid, das einem die Ungerechtigkeit des Herzens zufügt und das noch schmerzlicher ist als die Ungerechtigkeit der Gesetze.

 

[1] Der t’Zwerfel-Hof in Wijhe ist ein nationales Begegnungszentrum der Bewegung ATD Vierte Welt in den Niederlanden. Seit 1974 wurden dort unter anderem Familienferien und Bildungstreffen der Vierte-Welt-Volksuniversität durchgeführt.

Lesen Herunterladen
1 Komentare Kommentar schreiben

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert