Wresinskis Beitrag zur Exklusionsdebatte

Die deutsche Historikerin Sarah Haßdenteufel hat die Entwicklung der Armutsdebatte in Deutschland und Frankreich in der Zeit nach dem „Wirtschaftswunder“ untersucht. In einem längeren Interview geht sie unter anderem auf Rolle von Joseph Wresinski bei der politischen Thematisierung der Armut ein. Wir übernehmen den Ausschnitt mit freundlicher Genehmigung von ATD Vierte Welt in Deutschland. Die Fragen stellte Marie-Rose Blunschi.

– Frau Dr. Haßdenteufel, in Frankreich wurde Armut schon in den 1980er Jahren unter dem Stichwort „Exklusion“ als Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts thematisiert und die Debatte führte zu grundlegenden politischen Veränderungen. Welche Rolle spielt ATD Quart Monde in dieser Entwicklung?

ATD Quart Monde spielte dabei eine sehr große Rolle. Sicher kann man die Urheberschaft für den Begriff nicht einer einzigen Person oder Institution zuordnen, aber wenn ich für meine Forschung die Ursprünge dieses Begriffs verfolgt habe, bin ich immer wieder bei ATD Quart Monde gelandet. Die Wissenschaft hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff schon seit den 1960er Jahren vereinzelt in wissenschaftlichen Publikationen verwendet wurde, wie zum Beispiel bei Jules Klanfer. Aber auch bei ATD Quart Monde findet sich der Begriff in dieser Zeit schon; zum Beispiel erschien schon 1967 eine Ausgabe der Verbandszeitschrift unter dem Titel „Contre l’exclusion des pauvres“.

Père Joseph und die Bewohner des Slums La Campa in der Nähe von Paris schauen hilflos zu wie Vertreter der öffentlichen Ordnung mit ihren Bulldozern mitten im Winter ihre „Säuberungs-aktionen“ durchführen. Über diese Aktion berichtete ausführlich die Verbandszeitschrift „Igloo“ No. 43 Dezember 1968.

In der politischen Debatte tauchte der Begriff dann wie gesagt erst später auf: in der Nationalversammlung sprachen die Abgeordneten erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre von Armut als Exklusion. Meiner Ansicht nach kann man auch hier einen Bezug zu ATD Quart Monde herstellen. Denn der Verband, der in den 1970er Jahren immer häufiger den Exklusionsbegriff nutzte, hatte in dieser Zeit auch seine Kontakte zu Politik und öffentlicher Verwaltung immer stärker ausgebaut. Er pflegte Kontakte zu Staatssekretären, zu Parlamentariern und zum Conseil économique et social [Wirtschafts-und Sozialrat], in den Joseph Wresinski 1979 auch als Mitglied aufgenommen wurde. 1982 erteilte die Regierung schließlich auch den Auftrag für einen Armutsbericht direkt an Wresinski.2 Der Gründer von ATD Quart Monde lehnte den in dieser Zeit die Debatte dominierenden Begriff der „Neuen Armut“ ab – mit dem Verweis darauf, dass für die Betroffenen Armut keineswegs neu sei – und sprach in seinem Bericht stattdessen einfach von Armut und an manchen Stellen auch schon von „exclusion sociale“. Er unterschied sich damit natürlich nicht nur im Vokabular, sondern auch in der Ausdeutung von der dominierenden Ausdeutung von Armut in dieser Zeit. Während die „Neue Armut“ zunächst vor allem als physische Bedürftigkeit diskutiert wurde, die sich in Hunger, Kälte und Obdachlosigkeit ausdrückte, rückte Wresinski in diesem Bericht schon die politische Teilhabe und Bildung der Betroffenen in den Fokus.

„Während die „Neue Armut“ zunächst vor allem als physische Bedürftigkeit diskutiert wurde, die sich in Hunger, Kälte und Obdachlosigkeit ausdrückte, rückte Wresinski schon die politische Teilhabe und Bildung der Betroffenen in den Fokus.“

Ähnliches gilt für den nächsten Armutsbericht, den Wresinski nur fünf Jahre später für den Conseil économique et social erstellte und in dem er die Empfehlung formuliert, „La lutte contre l’exclusion sociale“ [den Kampf gegen soziale Ausgrenzung] als nationale Priorität zu betrachten. Auf diese Berichte musste die Regierung reagieren, und sich dabei auch mit den dort formulierten Ausdeutungen von Armut auseinandersetzen – und eben auch mit dem dort verwendeten Vokabular. Insofern gelang es dem Verband unter anderem durch diese Berichte, seine Ideen von Armut und Armutsbekämpfung zu verbreiten.

Am 10. und 11. Februar 1987 legte Joseph Wresinski seinen Bericht über „Extreme Armut und wirtschaftliche und soziale Prekarität“ im Wirtschafts-und Sozialrat der Französischen Republik vor. Die Stellungnahme wurde mit großer Mehrheit und ohne Gegenstimmen angenommen. Sie inspirierte insbesondere die Schaffung des Mindesteinkommens (Revenu minimum d’insertion, RMI), der Universellen Krankenversicherung (Couverture Maladie Universelle, CMU), des einklagbaren Rechts auf Wohnraum (DALO) und des Richtliniengesetzes vom 29. Juli 1998 zur Bekämpfung der Ausgrenzung.

– Sie zitieren mehrere französische Autoren, die im Rahmen von historischen, soziologischen oder politologischen Studien auf ATD Vierte Welt eingehen, wie etwa André Gueslin, Serge Paugam, Frédéric Viguier. Hat Ihre Arbeit im Archiv der Bewegung ATD Vierte Welt im Joseph-Wresinski-Zentrum Sie auf diesem Hintergrund zu neuen Erkenntnissen oder unterschiedlichen Einschätzungen geführt?

Zu vielen neuen Erkenntnissen, aber zu keinen grundsätzlich unterschiedlichen Einschätzungen. Die Arbeiten dieser Forscher schätze ich sehr – und übrigens waren es unter anderem die Seminare von André Gueslin, der in Paris mein Professor war, die mich zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Armut gebracht haben. Ich würde aber sagen, dass ich deren Arbeiten um einige neue Erkenntnisse ergänzen konnte.

Auf Grundlage des Archivmaterials von ATD Quart Monde konnte ich unter anderem aufzeigen, welche wichtige Rolle der Verband bei der Prägung des Exklusionsbegriffs spielte und dass die Exklusionsdebatte in Frankreich auch schon viel früher begann, als die Forschung es bisher datiert hatte.

Auf Grundlage des Archivmaterials von ATD Quart Monde konnte ich aufzeigen, welche wichtige Rolle der Verband bei der Prägung des Exklusionsbegriffs spielte.

Außerdem konnte ich mit diesen Quellen nachzeichnen, wie der Verband seine Ideen in Politik und Verwaltung verbreitete, nämlich unter anderem durch die Armutsberichte für die Regierung, die Unterstützergruppe im Parlament, die Mitgliedschaft Wresinksis im Wirtschafts- und Sozialrat und generell die kontinuierliche Lobbyarbeit des Verbandes.

1. Juni 1983 „Das Elend bezwingen“ – Vortrag Joseph Wresinskis an der Sorbonne, Paris

Ich konnte außerdem zeigen, dass ATD Quart Monde ebenfalls eine wichtige Rolle in der Debatte um die Mindestsicherung spielte. In Frankreich wurde 1988 mit dem Revenu minimum d’insertion (RMI) erstmals ein beitragsunabhängiges Existenzminimum eingeführt. Einzelne Kommunen hatten in den vorausgehenden Jahren diese Idee schon auf lokaler Ebene untersucht, aber auch ATD Quart Monde hatte in Rennes ab 1985 schon ein eigenes Modell der Mindestsicherung erprobt, das sich deutlich von den anderen unterschied. Die Auswertung dieses Projekts dokumentierte und veröffentlichte der Verband. Wresinski nahm die Ergebnisse natürlich auch in seinen Armutsbericht auf, und so gelangten auch die Vorstellungen des Verbandes wieder in ein Dokument, das direkt an die Regierung adressiert wurde. Insofern prägte der Verband auch durch seine Erforschung der Armut und Erprobung neuer Formen der Armutsbekämpfung auch die Debatte um die Mindestsicherung. Mithilfe der Quellen aus dem Archiv von ATD Quart Monde konnte ich das zeigen.

Zum vollständigen Interview

Sarah Haßdenteufel, geboren 1986, hat Geschichte und Romanistik in Trier und Paris studiert. Als Mitglied eines internationalen Graduiertenkollegs wurde sie im Jahr 2016 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Università degli studi di Trento promoviert. Die Ergebnisse ihrer Forschung veröffentlichte sie 2019 als Monografie mit dem Titel „Neue Armut, Exklusion, Prekarität. Debatten um Armut in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, 1970-1990“. 

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