Glauben Sie mir, vergeben ist schwer

Im folgenden Text aus dem Jahr 1984 erzählt Joseph Wresinski Begebenheiten, wie sie sich auch in der aktuellen Krisenzeit zutragen können. Er verbindet damit einen Aufruf: „Freunde, können diese Kinder, diese Mütter, diese Eheleute, kann dieses Volk im Elend morgen auf Sie zählen?“ (Worte für morgen, S. 139)

Vor kurzem durchwühlten junge Frauen
zwischen fünfundzwanzig und dreißig
an der Kreuzung Rue Cadet und Boulevard Montmartre in Paris
einen Haufen Kartonschachteln vom nahegelegenen Markt.

Eine von ihnen fischte zwei halb gegessene Kuchen heraus
und steckte sie hastig in ihre Tasche.

Sofort tauchten zwei Kinder auf,
denen sie einen der Kuchen teilte.

Ich war so erschüttert, dass es mir die Sprache verschlug.
Bilder aus den sechziger Jahren stiegen vor mir auf:
ich sah jene Kinder im Lager von Noisy-le-Grand,
die genauso im Müll nach Essbarem gesucht hatten.

Ich erinnerte mich an die Jungen,
die ihre Murmeln verkauft hatten,
um ihrer Mutter ein Brot zum Geburtstag zu schenken.

Ich hatte geglaubt, diese Zeiten seien vorbei.
Doch hier war eine Mutter, die ihre Kinder
mit verdorbenem Kuchen ernährte.

Ich hätte nicht geglaubt,
im September 1984 den Alptraum miterleben zu müssen,
wie vier kleine Kinder
zwischen acht Monaten und acht Jahren
von einem gemeindeeigenen Grundstück verjagt wurden.

Das geschah gestern morgen.
Im Juli hatte ihre Familie dort
in einem geliehenen Zelt Zuflucht gefunden.

Weder der Bürgermeister noch die Sozialarbeiterin,
noch der Präfekt hatten etwas für sie getan,
außer, dass sie die Kinder ins Heim eingewiesen hatten,

fürs erste, bis sich eine Lösung finden würde.

Und dennoch ist die Vierte Welt nicht nur Trostlosigkeit.
Es gibt dort Frieden und Verzeihung,
allem Elend zum Trotz.

Ich denke an den Mann,
den ich letzten August auf dem Friedhof traf.

Seine neunjährige Tochter
war auf dem Gehsteig von einem Auto erfasst worden.

Das Kind war gestorben.
Nach dem Begräbnis sagte der Vater zu mir:
„Verstehen Sie, ich hätte den Kerl erwürgen können,
der meine Tochter überfahren hat.

Als ich aber auf der Polizeistation sah,
dass die Frau, die den Unfall verursacht hatte, behindert war,
da wusste ich nicht, was ich ihr sagen sollte.

Ich dachte nur, dass es für sie auch schrecklich sein musste,
mein Kind getötet zu haben.

Wir haben zusammen geweint,
und ich sagte mir, dass man verzeihen muss.
Aber glauben Sie mir, Herr Pfarrer, vergeben ist schwer.“

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